Theatre-For-Change

Dez 1, 2015 / by joern / In Allgemein / Leave a comment

Ästhetische Forschung

Ästhetische Forschung als Chance auf Erkenntnisgewinn in komplexen (adaptiven) Systemen

Ausgangspunkt aller Forschungsbemühungen ist die systematische Suche nach neuen Erkenntnissen. Dabei unterscheiden sich die jeweils angewandten Forschungsmethodiken hinsichtlich der ausgehenden Forschungsfrage und des Fachgebiets, auf die sie angewandt werden. In der Regel werden die Kriterien der Objektivität und der Wiederholbarkeit auf das Forschungsdesign angewandt, um theoretische Konstrukte auf ihre Allgemeingültigkeit zu überprüfen.

Ein solches Forschungsdesign ermöglicht es, Wissen über geschlossene Systeme mit begrenzten Parametern zu generieren. Dieser Ansatz ist allerdings nur begrenzt aussagefähig. Es lassen sich nur dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Prognosen über zu erwartende Ereignisse treffen, wenn alle Parameter bekannt sind, die dieses Ereignis hervorrufen und beeinflussen. Mit zunehmender Komplexität und Anzahl der Paramter, die das System beeinflussen, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer verifizierbaren Aussage. So lassen sich zwar beeindruckend präzise Aussagen über Ursache-Wirkungsprinzipien von Körpern machen, jedoch scheint die Vorhersagbarkeit mit zunehmender Komplexität der Forschungsgegenständen abzunehmen. Je mehr Faktoren in ein System einbezogen werden, desto unvorhersehbarer ist die Wirkung und Wechselwirkung der einzelnen Faktoren. Dies ist insbesondere bei adaptiven komplexen Systemen der Fall, also jenen Systemen, die sich an ihre Umwelt anpassen.

Ein kausales Forschungsdesign stößt bei komplexen Systemen an seine Grenzen, nicht jedoch ein hermeneutischer Forschungsansatz, wie die ästhetische Forschung. Durch eine subjektiv-intutive, aistetische und ästhetische Auseinandersetzung mit einer Ausgangsthematik werden Deutungs- und Sinnzusammenhänge, Symbole und Verhaltensmuster künstlerisch irritiert und somit reflektierbar. Als offene Lernform bietet die ästhetische Forschung dem Forschenden ein dynamisches Gefüge, in das sich der/die Forschende mit allen Sinnen und Vorerfahrung vertiefen kann. Im Gegensatz zur kausalen Forschungskette wird die Forschungsrealität nicht auf eine definierte Methode mit wenigen Parametern begrenzt. In der ästhetischen Forschung herrscht eine Methodenoffenheit, die angrenzende Wissensbereiche und unkonventionelle Forschungsmethoden mit etablierten Verfahren der Wissenschaft kombiniert. Parameter können nach Belieben isoliert oder variiert werden, sodass sich eine augenblickliche Wirkung eines oder mehrer Parameter auf das System einstellt und erlebbar wird. Es entsteht eine sensible Forschungsmatrix, deren Dynamik sich systemisch-oszillierend in den Bereichen Erkenntnis, Intuition und Wissenserwerb bewegt. Das ästhetische Forschungsergebnis erhebt keinen Anspruch auf eine empirische Falsifizierbarkeit, da es sich explizit gegen eine Seperation und Klassifizierung von forschungsimmanenten Elementen positioniert.

  • „Ist die Laborsituation für wissenschaftliche, positivistische Experimente üblicherweise auf Reduktion und auf Ausschaltung des Faktors Subjektivät gerichtet, so findet im ‚Theaterlabor‘ genau das Gegenteil statt: Die Qualität der zu erwartenden Ergebnisse hängt ab von der Fähigkeit der Beteiligten zu gezielt ziellosen Assoziationen und Einfällen und von deren Bereitschaft, sich umfassend, mit dem ganzen Körper, emotional, intelektuell und sozial auf das Experiment einzulassen.“Dorothea Hillinger (2009): Freiräume der Enge. Künstlerische Findungsprozesse der Theaterpädagogik. Schibri Verlag, Milow/Strasburg, Berlin. S. 49
  • „Ästhetik ist für mich keine Wissenschaft oder Disziplin, die sich mit der Kunst beschäftigt. Ästhetik bezeichnet einen Modus des Denkens, der sich anhand von Gegenständen der Kunst entfaltet und sich bemüht zu sagen, inwiefern sie Gegenstände des Denkens sind.“Zitiert nach Jaques Rancière in Dorothea Hillinger (2009): Freiräume der Enge. Künstlerische Findungsprozesse der Theaterpädagogik. Schibri Verlag, Milow/Strasburg, Berlin. S. 48.

Am Ende der Forschung steht ein erfahrbares, komplexes Ergebnis, das als Produkt sowohl alle Parameter des Forschungsprozesses als auch die Dynamiken widerspiegelt, die zu dem präsentierten Ergebnis geführt haben. Gerade in der Darbietung künstlerisch verfremdeter Zusammenhänge und durch die komplexe Inszenierung von Inhalten, die auf allen Sinneseben erfahrbar werden, etabliert sich der Mehrwert des Forschungsvorhabens. Es handelt sich um eine multidimensionale Präsentation der Ergebenisse aus der spezifischen Forschungsthematik, dem Forschungsort und Forschungszeitraum sowie den Interessen, Wahrnehmungen und Kompetenzen der Forschungsgruppe. Die Forschungsergebnisse können nicht aus dem Kontext, in den sie eingebettet sind, isoliert werden, gleichwohl haben sie aufgrund der sich gegenseitig regulierenden Strömungen einer Kollektivintelligenz, einen exemplarischen Charakter.

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